Kulturlotse

Lesung mit Anselm Neft: „Späte Kinder“ (Roman)

Veröffentlicht am 18. April 2023 von Kulturlotsin Sandra

Eine kleine Kirche im Herzen der Stadt, eine literarische Veranstaltungsreihe und ein Autor, der sich an unbequeme Themen heranwagt: Am vorletzten Märzwochenende kam ein interessiertes Publikum in den Genuss einer Lesung der ganz besonderen Art!

 

Der in Hamburg lebende Schriftsteller Anselm Neft las aus seinem neuen Roman „Späte Kinder“ vor und nahm damit an der Lesereihe „Lesungen fürs Ledigenheim – zu Gast im Kleinen Michel“ teil, die 2014 ins Leben gerufen wurde. Mehr als 88 Benefiz-Lesungen haben seitdem stattgefunden, um im Rahmen des Kulturprojekts „Das Ledigenheim erhalten!“ Spenden zur Bewahrung des historischen Gebäudes in der Rehhoffstraße zu sammeln.

 

Eine Besonderheit der Benefizreihe ist, dass die Veranstalter*innen bereits von Beginn an ganz bewusst auf Eintrittsgelder verzichten. Stattdessen gibt es die Möglichkeit, an den Abenden eine Spende für das Ledigenheim zu hinterlassen, um so das Projekt zu unterstützen. Auch die Vortragenden verzichten daher auf eine Gage und lesen ausschließlich für den guten Zweck.

 

Der Kulturlotse war neugierig und traf Anselm Neft an diesem Abend exklusiv vorab zum Gespräch:


Lieber Anselm, du kommst ursprünglich aus der Bonner Gegend. Warum hast du dich dazu bereit erklärt, an dieser Veranstaltungsreihe teilzunehmen und im Rahmen einer Lesung das Projekt „Das Ledigenheim erhalten!“ zu unterstützen?

 

Einige Kollegen und Kolleginnen, Freunde und Freundinnen von mir haben an dieser Reihe bereits teilgenommen und viel davon erzählt. Obwohl ich zum Ledigenheim selbst keine persönliche Bindung habe, möchte ich das Projekt gerne unterstützen. Ich höre immer wieder davon und mir scheint, dass es einfach zur Hamburger Kultur dazu gehört und die sollte bewahrt werden.

 

In deinem Roman „Späte Kinder“ geht es um die Zwillinge Sophia und Thomas, ihre Beziehung zueinander, aber auch um die zu ihren Eltern. Hast du eigentlich selbst Geschwister?

 

Lacht. Ich dachte schon, du fragst mich, ob ich selber Eltern habe! Ja, Geschwister habe ich auch. Zwei ältere Schwestern und einen älteren Bruder, ich bin sozusagen das Nesthäkchen.

 

Das bedeutet also, du weißt, wovon du schreibst. Hast du eigene Erfahrungen aus deiner Kindheit mit in den Roman einfließen lassen?

 

Lacht wieder. Das ist immer die erste Frage, die ich gestellt bekomme! Und tatsächlich: Ich habe eine Menge Erfahrungen aus meiner eigenen Kindheit in die Geschichte mit eingebaut.

 

Interessant! Hat deine Familie das Buch denn bereits gelesen und haben sie sich an bestimmten Stellen wiederfinden können?

 

Ja, ich habe das Buch meinen Geschwistern und meiner Mutter vor der Drucklegung zum Lesen gegeben. Meine Mutter bat mich dann auch, ein paar Stellen zu überarbeiten, um darauf nicht angesprochen zu werden, und diesen Gefallen habe ich ihr getan. Änderungswünschen komme ich in der Regel gerne nach, denn immerhin bestehen alle meine Bücher nicht nur aus persönlichen oder ausgedachten Erlebnissen, sondern auch aus Erlebnissen anderer. All das organisiere ich dann zu einer Geschichte, die über die jeweilige Realität hinausgeht, für alle aber irgendwie anschlussfähig bleibt.

 

Das Feedback deines Umfelds ist dir, bezogen auf deine Arbeit, also schon sehr wichtig?

 

Allein aus ethischen Gründen ist es einfach fair, die Menschen, die mir das Material für meine Geschichten liefern, mit einzubeziehen. Ich kann nicht, wie Thomas Mann es häufig getan hat, in meinen Büchern über die Leute herziehen, die es dann später lesen. Mit der Frage nach dem Ursprung des Materials geht übrigens oft auch die Frage nach der Authentizität einher. In diesem Zusammenhang taucht in der Diskussion schon lange in Frankreich und seit ein paar Jahren auch in Deutschland der Begriff der „Autofiktion“ auf. Immer wieder ist zu beobachten, dass jemand einen Teil seiner eigenen Geschichte mit fiktiven Elementen aufschreibt und dass dieser Jemand plötzlich wichtiger als das Werk selbst wird, unter anderem deshalb, weil sich das heutzutage besser vermarkten lässt. Bei meinen Romanen handelt es sich auch immer um eine Art Autofiktion, aber ich würde es selbst nie so klar benennen. Es sind einfach Geschichten, ausgedachte Begebenheiten mit Dingen, die ich selbst kenne und spüre, gelesen, erlebt oder von anderen gehört habe. Zum Beispiel habe ich für mein aktuelles Buch, „Späte Kinder“, mit Menschen aus dem Hospiz telefoniert. Ich wollte verstehen, wie es ist, kurz vor dem Tod zu stehen und habe dafür auch eine entsprechende Einrichtung besucht.

 

Das klingt nach einer sehr gründlichen und intensiven Vorbereitung. Auf den Tod folgt die Beisetzung und das leitet mich direkt zur nächsten Frage über: Wie stehst du eigentlich zum Veranstaltungsort? Deine Lesung findet in einer Kirche statt, im Kleinen Michel in Hamburg. Ist es für dich etwas Besonderes, in einer solchen Räumlichkeit zu lesen?

 

Ja, total! Vorhin erst habe ich mich selbst gefragt, ob ich schon jemals in einer Kirche gelesen habe und kann mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern. Ich bin sicher, dass es sich komisch anfühlen wird, in so einer großen Halle, wo die Leute vorne und hinten sitzen werden, vorzulesen. Aufgrund der Weitläufigkeit des Raumes werde ich nur wenig Anbindung an sie haben, weil die eigene, körperliche Präsenz schnell verloren geht. Ich werde wohl eher wie eine entrückte Stimme aus dem Off sprechen, die durch das ganze Kirchenschiff hallt. Das muss auch für das Publikum sehr speziell sein. Als zuhörender Mensch bekommt man so wohl eher das Gefühl, in einem Kino zu sitzen und zu konsumieren, und nicht bei einer Lesung zu sein, wo eine reale Person sitzt und vorträgt. Ich bin sehr gespannt auf diese Erfahrung!

 

Wir sind auch schon sehr gespannt, lieber Anselm, und danken dir für die Zeit, die du dir für das Gespräch genommen hast!

 

Nur zehn Minuten später erklingt Anselm Nefts Stimme ehrfurchtgebietend in der großen Halle des Kleinen Michels.

 

Er beginnt ganz am Anfang, skizziert die Figuren, erzählt aus ihren Leben, von ihren Sorgen und Problemen, und von der unausweichlichen Tatsache, dass eine von ihnen sterben wird: Sophia. Unheilbar krank lautet die Diagnose der Mittvierzigerin, die weniger mit ihrem eigenen Schicksal als mit dem ihrer neunjährigen Tochter zu kämpfen hat. Resigniert fragt sie: „Was kann eine Mutter ihrem Kind Schlimmeres antun, als zu sterben?“

 

Für einen Moment verweilt die Tragik dieser Worte schwer und unbeantwortet im Kirchenraum, bis der Autor aufsieht und den Zuhörenden mit einem Augenzwinkern verspricht, dass es „von hier an nicht mehr schlimmer wird“. Er behält recht. Fortan taucht das Publikum tiefer in die Geschichte ein; eine Geschichte, die nicht nur erschreckend und bedrückend ist, sondern auch Überraschungsmomente bereithält und sogar zum Lachen bringt – etwa wenn die Rede vom Potential eines mexikanischen Eintopfs als Abendessen ist oder die Frage aufgeworfen wird, was eigentlich der Unterschied zwischen Pflaumen und Zwetschgen ist.


Mit „Späte Kinder“ gelingt es Anselm Neft, eine unbequeme Angelegenheit, nämlich keine geringere als die Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Tod und in Folge dessen auch mit dem (eigenen) Leben, auf eine sehr eigenwillige, aber erkenntnisreiche Art und Weise zu beleuchten.

 

Und so spricht der Beifall der Besucher*innen am Ende der Lesung für zweierlei Gewissheiten des Abends: für die Qualität des Romans einerseits und den erneuten Erfolg der Lesereihe andererseits.